„Vor Bomben geflohen und wieder von Bomben bedroht“

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Interview mit Milad, der sich im Rheinland eine neue Existenz aufgebaut hat.

Milad, warum hast du deine Heimat verlassen? 

Ich habe mit meinen Eltern und Geschwistern in einem christlichen Dorf im Norden des Irak gelebt. Als der IS unserem Ort immer näher kam, sind die meisten Leute geflohen, auch alle meine Verwandten waren schon weg. Wir haben unser Hab und Gut verkauft und sind über die türkische Grenze geflohen, da standen die IS-Kämpfer schon fünf Kilometer vor unserem Ort. Als Christen waren wir in großer Gefahr, insbesondere meine beiden Schwestern hätten unter dem neuen Regime keine Zukunft gehabt. So sind wir mit einem Visum zu einem Onkel geflogen, der bereits in Lyon in Frankreich war. Wir waren kaum dort, als am 13. November 2015 die fünf koordinierten Terroranschläge in Frankreich mit hunderten Toten und Verwundeten stattfanden. Wir waren vor Bomben geflohen und schon wieder mit Bomben bedroht. Wir sind ziemlich genau vor drei Jahren dann nach Deutschland gekommen. Zuerst nach Soest, wo meine Eltern und die zwei Schwestern und ich in Zelten wohnen mussten und zwei Monate später nach Weilerswist ins „Fässchen“.

Vor dem Krieg waren die Verhältnisse besser, es gab einen gewissen Wohlstand. Die Christen gehörten zur Oberschicht. Die einzelnen Religionen lebten für sich, heirateten auch meist innerhalb ihrer Religion. Aber wir waren nicht religiös getrennt, haben zum Beispiel bei muslimischen Läden eingekauft. Oder in Firmen zusammen gearbeitet.

Welchen Beruf hast du zu Hause ausgeübt? Welche Qualifikation hattest du?

Ich habe im Irak Abi gemacht und Informationstechnik studiert, das ging nur, wenn man unter den zehn Besten der Klasse war. Sechs Jahre habe ich in einer Firma für Fiberglaskabel gearbeitet, nebenher an einer privaten Schule kurdisch unterrichtet und dem Vater im Friseursalon geholfen. Meine Muttersprache ist Aramäisch, in der Schule habe ich Kurdisch, Arabisch und Englisch gelernt und jetzt hier noch Deutsch.

Hattest du dich in humanitären Organisationen engagiert?

Nebenher habe ich an einem theologischen Seminar Kurse in Theologie und Philosophie belegt. Ich war immer in meiner katholischen Gemeinde engagiert, zum Beispiel als Katechet für die Kleinen.

Politisch sollte ich nie aktiv sein. Als einziges christliches Dorf umgeben von muslimischen Orten oder als einziger christlicher Mitarbeiter in der Firma galt das Wort meines Vaters: Kein Wort zu Politik oder Religion.

Willst du etwas über Erlebnisse während der Reise berichten?

Unsere Reise war unspektakulär. Wir konnten uns das Visum für Frankreich leisten und sind von der Türkei aus nach Frankreich geflogen.

Was hast du zusammen mit deiner Heimat verloren? Hast du durch den Umzug nach Deutschland etwas dazugewonnen?

Zuerst das Positive: Ich habe in Deutschland sehr viel lernen können. Besonders schätze ich das Recht, das hier herrscht und die Sicherheit. Hier kann man Mensch sein. Es gibt für jeden Chancen auf Weiterbildung. Mit dem nötigen Willen hat man hier fast alle Möglichkeiten.

Natürlich gibt es auch Verluste: Meine Freunde, die im Irak geblieben sind, mein Bruder, der dort in einem Priesterseminar ausgebildet wird und eben die kirchlichen Gruppen, in denen ich zu Hause war. Ich hatte im Irak alles: Auto, Beruf, ein gesichertes Einkommen, eine Liebe, meine Zukunft. Wir waren mit den Gruppen in Europa im Urlaub, haben viel Spaß gehabt. Alles war über Nacht zunichte. Hier in Deutschland sehe ich weniger Freundschaften und auch weniger Zusammenhalt. In der Berufsschule fiel mir auf, dass es wenig Respekt vor den Lehrern gibt, dafür mehr Misstrauen und Konkurrenz. Die Mentalität ist total anders.

Was ist das Beste an Deutschland?

Als erstes fällt mir da die medizinische Versorgung ein. Man kann mit einer Gesundheitskarte zum Arzt, auch wenn man arm ist.

Viele Leute hier waren ein Gewinn für mein Leben, vor allem die Älteren. Ein pensionierter Lehrer, Reiner Raffelt, hat mir beim Deutschlernen sehr geholfen, deshalb war ich so schnell. Ich hatte ihn ganz am Anfang beim Augenarzt kennen gelernt und am nächsten Tag stand er vor unserem Wohnheim und bot mir an, mir beim Deutschlernen zu helfen. Daher konnte ich zum Beispiel nach dem Deutschkurs A1 das Niveau A2 überspringen und gleich bei B1 anfangen. Auch bei den Prüfungen im Rahmen der Ausbildung hat er mir viel geholfen, sonst hätte ich die Fachsprache nicht verstanden und die Prüfungen nicht ablegen können.

Welche Chancen siehst du in Deutschland, besonders auf dem Arbeitsmarkt?

Als wir hier Fuß gefasst hatten habe ich gleich erkannt, dass mein Vater als Friseur in seinem Alter nie wieder arbeiten kann. Ich habe deshalb den Plan, einen Friseursalon zu eröffnen, damit ich dort meinen Vater beschäftigen kann. Ich habe beim Friseursalon Kevin Thater in Großvernich eine Lehre gemacht. Herr Thater hat mich sehr gut unterstützt, ich konnte die Lehrzeit auf zwei Jahre verkürzen und ich war trotzdem Jahrgangsbester bei der Friseur-Innung Euskirchen. Während der Lehrzeit habe ich Kurse in London im Rahmen des Erasmus-Programms gemacht. Und ich habe auch in Belgien Kurse belegt und so habe ich jetzt auch einen belgischen Gesellenbrief als Barbier – das ist von Vorteil, weil Bärteschneiden in Deutschland nicht zur Ausbildung gehört. In der Handwerkskammer bin ich jetzt sogar im Prüfungsausschuss. Inzwischen habe ich die Meisterschule abgeschlossen und Mitte Januar meinen Meisterbrief erhalten.

Die Selbstständigkeit ist mein aktuelles Ziel  auch wenn es vielleicht nicht klappt, denn man braucht viel Geld um einen eigenen Salon zu eröffnen. Ich werde als nächstes eine Beratung zur Existenzgründung machen.

Man hat hier viele Möglichkeiten. Ich könnte theoretisch auch an meinen Kursen in Theologie und Philosophie anknüpfen mit dem Ziel vielleicht Pfarrreferent in der katholischen Kirche zu werden. Oder ich könnte in meinem Fachgebiet der Informationstechnik weiter machen. Aber ich werde jetzt langsam alt (28) und muss endlich Geld verdienen.

Bei aller Planung bleibt aber immer die Unsicherheit bezüglich unseres Aufenthaltsstatus – wir können nicht wissen, ob das Ausländeramt uns nicht im nächsten Jahr wieder zurück schickt.

Ja, ich bin auch in den Pfarrgemeinderat von Weilerswist gewählt. Ich habe mich über die vielen Stimmen gefreut.

Was vermisst du in Deutschland?

Vor allem meine Freunde. Und mein altes Leben, ich habe wirklich ein gutes Leben geführt und ausreichend Geld verdient im Irak und musste hier von Null neu anfangen. Das war nicht leicht, die Umstellung. Inzwischen zahle ich mein Leben selbst, brauche keine Hilfe mehr vom Amt.

Was ist dein größter Wunsch?

Nicht mehr Flüchtling sein, sondern Mensch. Und natürlich Gesundheit.

Hast du mal versucht, Personen einer anderen Kultur – außer den Deutschen – näher zu kommen?

Ich bin aus dem Irak das Zusammenleben mit vielen Kulturen gewöhnt, habe also kein Problem damit. An der Berufsschule war ich älter als die Mitschüler. Auch gab es dort kaum Freundschaft oder Solidarität, sondern eher Konkurrenz.

Allerdings hatte ich einfach wenig Zeit. Ich war zu schnell, war kaum in einem Kurs, dann hab ich schon den nächsten angefangen, daher konnten kaum engere Freundschaften entstehen. Habe wenig Freizeit gehabt, weil ich schnell fertig werden wollte. Ich singe in drei Chören mit, aber auch dafür fehlt mir oft die Zeit.

Was denkst du, warum lehnen viele Menschen Flüchtlinge ab?

Es gibt leider auch Flüchtlinge, die sind hier nicht wirklich angekommen. Manche können auch nach drei Jahren kaum ein Wort deutsch sprechen. Sich integrieren zu wollen bedeutet eben auch sich anzustrengen. Vieles bekommen, aber nichts dafür tun, das geht nicht. Und die Deutschen haben Angst vor Verbrechen.

Was müsste passieren, damit das Verhältnis besser wird?

Insgesamt muss Geben und Nehmen ausgeglichener sein.

Was willst du sonst noch sagen?

Was ich wirklich als sehr negativ erlebt habe, war die Abhängigkeit vom Jobcenter. Man wird mitunter schlecht behandelt, teilweise beschimpft. Als ich über eine Hilfe in Form eines Vorschusses oder Darlehens zum Bezahlen von Prüfungsgebühren reden wollte – ich lebte bereits von Bafög – sagte mir ein Mitarbeiter es sei ihm „scheißegal“, was ich mit dem Geld mache.

Andererseits habe ich auch dort echte Hilfsbereitschaft erlebt. In einer anderen Abteilung geben sie sich viel Mühe, einen zu beraten, für weitere Deutschkurse und die weitere berufliche Entwicklung. Dort sind sie sehr freundlich. Ein Mitarbeiter hat mich beispielsweise bei der Übernahme der Kosten für das Visum für London unterstützt und mir mit Tipps während der ganzen Ausbildung geholfen.

Es ist mir noch sehr wichtig zu sagen, dass ich vieles ohne die Unterstützung durch hilfsbereite Mitmenschen nicht geschafft hätte. Bei ihnen allen bedanke ich mich. Mehrmals wurde ich sogar mit in den Urlaub genommen. Ich habe bereits das Gefühl, hier eine große Familie zu haben.

Feature: Friedenszeiten im Irak


Video I: Milad bei einem Videoclipdancing-Auftritt „il Simbolo“


Video II: Milad bei einem Videoclipdancing-Auftritt