Deutschkurs mit Rechnen und Kulturaustausch – Inge Lemke setzt sich in der Evangelischen Gemeinde Weilerswist seit 20 Jahren für die Integration von Migrantinnen ein

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Gerrit Scheben , KStA. 18. Sept. 2024

Weilerswist – Milana (Name aller Teilnehmerinnen geändert) ist 21 Jahre alt, aus der Ukraine geflüchtet und besucht zum ersten Mal den Sprachkurs. Ihre Lehrerin Inge Lemke ist mehr als viermal so alt wie sie. Die 85-jährige ehemalige Managerin bietet den Deutschkurs in der Evangelischen Kirchengemeinde Weilerswist montags von 10 bis 12 Uhr an – und das seit 20 Jahren.

An diesem Montag steht die Rentnerin neben der 77-jährigen ehemaligen Verkäuferin Monika Zeidler und schaut auf eine Tafel, an die eine Frau das Wort „Wassermelone“ schreibt. Heute stehen unter anderem zusammengesetzte Worte auf dem Stundenplan. Die beiden Ehrenamtlerinnen sprechen sich scherzhaft mit Frau Inge und Frau Monika an. Im Hintergrund spielt Milanas kleiner Sohn mit der dritten Freiwilligen, Ingrid Ott. „Seit zehn Minuten kann er ‚danke‘ sagen“, sagt die Seniorin fröhlich: „Wir beide machen hier auch Deutschunterricht.“

Milana ist die jüngste im Unterricht, neben ihr sitzt mit 64 Jahren die älteste Teilnehmerin. Mit neun weiteren Frauen aus Syrien, Afghanistan, Georgien, aus der Türkei, dem Iran und dem Irak sitzt sie an einem langen Tisch vor einer Tafel. Sie lernt Schreiben, Rechnen – und Anträge ausfüllen. Das ist wahrscheinlich das schwierigste Fach von allen.

Das Angebot richte sich bewusst nur an Frauen, erzählt Inge Lemke. 2004 habe es in Weilerswist nur für Männer direkte Weiterbildungsmöglichkeiten gegeben. Das Problem: „Wenn die Frau nicht arbeitet, dann wird sie häufig als minderwertig gesehen.“ Diese Sichtweise komme gesellschaftlich von allen Seiten, berichtet Lemke. Sie jedoch sehe das absolut nicht ein. „Frauen an die Macht“, sagt sie und lacht verschmitzt.

Nachdem ihre Schülerinnen die richtigen Artikel zu Wörtern an der Tafel ergänzt haben, werden Zeichenblöcke und bunte Stifte verteilt. Die Utensilien kommen von der Flüchtlingsinitiative Weilerswist. Malen komme gut an, teilt Lemke mit: Die zusätzliche Verbildlichung der gelernten Begriffe werde seit Anfang des Jahres genutzt. Eine Teilnehmerin hat Probleme, die Aufgabe zu verstehen. „Wer kann ihr bei der Übersetzung helfen?“, fragt Inge Lemke in die Runde. Sofort meldet sich eine Mitschülerin, setzt sich zu der Frau und erklärt ihr leise, was zu tun ist.

„Ich wusste von vorneherein, dass ich mich in der Kirche engagiere, wenn ich mit 65 in Rente gehe“, sagt Lemke. Von der Dauer ihrer ehrenamtlichen Arbeit sei sie aber selbst überrascht. Während sie von Schülerin zu Schülerin geht und sich die gemalten Bilder anschaut, sagt „Frau Monika“, dass sie sich manchmal wundert , wie fit „Frau Inge“ ist: „Nach solchen Leuten kann man mit der Lupe suchen.“ Sie freue sich sehr, bei den montäglichen Lerneinheiten mithelfen zu können: „Hier wird immer viel gelacht.“

„Sag mal, Banu!“, sagt Inge Lemke gespielt streng, als das Handy einer Teilnehmerin klingelt. Die Anwesenden lachen. Eine 58-jährige Iranerin erzählt, dass das Lernen in ihrer alten Heimat ganz anders gewesen sei. „Frau Lemke macht das sehr nett und sympathisch“, pflichtet ihr eine zwei Jahre jüngere Teilnehmerin bei. Der Humor kommt bei Inge Lemke ganz bewusst zum Einsatz: „Es ist ein Erfolg, wenn die Teilnehmerinnen mitlachen.“ So werde nicht nur die Stimmung aufgelockert. Denn gerade eine Ironie zu verstehen sei auch für das Sprachverständnis förderlich, erklärt sie. „Und jetzt geht’s ans Rechnen“, leitet die 85-Jährige den nächsten Lernstoff ein. Sie schreibt Zahlen an die Tafel, die sich in der Größe steigern. Später folgen Punkt- und Strichrechnung. Der Umgang mit den Zahlen wird alltagstauglich verknüpft, beispielsweise mit einem Einkauf im Supermarkt. Die Schülerinnen beteiligen sich motiviert. „Machen wir noch einen Zungenbrecher“, sagt Inge Lemke und schreibt die Zahl 7777 an die Tafel. Bei den Versuchen, die Zahl fehlerfrei auszusprechen, wird reichlich gelacht.

Das Bildungslevel bei ukrainischen Geflüchteten sei oftmals hoch, berichtet Lemke. Ihr gehe es im Unterricht aber darum, dass alle etwas mitnehmen. „Sie wollen lernen. Ich merke, wie es den Frauen guttut.“ Und auch das gemeinsame Kaffeetrinken wird von allen sehr geschätzt. „Den Kaffee bringen die Schülerinnen immer mit.“

Doch auch in einer derart heiteren Atmosphäre kann es gelegentlich zu Spannungen kommen. Bei kulturellen Unterschieden, etwa zwischen muslimischen und jesidischen Frauen, vermittle die Lehrerin nach dem Motto „Leben und leben lassen“. Hierbei geht es um mehr als Deutschunterricht. Inge Lemkes ehrenamtliche Arbeit erstreckt sich weit über die Sprachvermittlung hinaus. Sie ist auch Ansprechpartnerin für Asylanträge, kümmert sich um Anliegen der Kinder ihrer Teilnehmerinnen und hilft mit, jährlich drei multikulturelle Frühstücke auf die Beine zu stellen.

Wenn Inge Lemke sich an die vergangenen 20 Jahre erinnert, kommen ihr überwiegend positive Erinnerungen in den Kopf. Doch nicht immer ist es zum Lachen. Im Gedächtnis blieben ihr auch Sterbefälle in den Familien der Frauen.

Als es beim Rechnen um die Zahl 104 geht, fragt „Frau Monika“ im Scherz, ob womöglich „Frau Inge“ über 104 sei. „An manchen Tagen schon“, entgegnet sie.

Textfeld: 18.09.24, 14:42	Kölner Stadt-Anzeiger e-paperTextfeld: https://epages.ksta.de/data/194246/reader/reader.html?t=1726663246664#!preferred/0/package/194246/pub/250767/page/26/alb/6979846	2/2