Angekommen: Aus dem Hochland in das Tambourcorps

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Interview mit Tendar S. (31) aus dem Südwesten Tibets (Ütang), dem selbständigen Teil der Nation.

Warum hast Du Tibet verlassen?

Ich habe in der Landwirtschaft und als Koch gearbeitet, hatte aber politische Probleme mit China. Von meinem Vater hatte ich einen Schmuck meiner Mutter geerbt. Diesen wollte ich als religiöses Vermächtnis meinem Gott opfern und bin daher nach Indien gereist. Nach meiner Rückkehr wurde ich wegen dieser Reise von den Chinesen unter Druck gesetzt und bedroht. Ich blieb bei der Familie meines Onkels, der aber selber auch politische Probleme hatte.

Wie bist du nach Deutschland gekommen?

Mein Onkel hat mich wegen der Probleme mit den chinesischen Sicherheitskräften dazu gedrängt, auszureisen. Er hat alles geregelt, denn er besaß in einem Pilgerort an der Grenze zu Nepal einen kleinen Handel und er hatte jemanden gefunden, der mir helfen konnte, über die Grenze nach Nepal zu reisen. Ich konnte mich in einer Kultur-Reisegruppe verstecken und flog dann von Nepal aus direkt nach Deutschland.

Tendar sitzt auf einem Stuhl in einem Garten.
Tendar beim Interview im Mai.

Mein erster Plan war nach Indien zu reisen, wo es eine große Gemeinde von tibetischen Flüchtlingen gibt. Aber da ich über 18 Jahre alt war, konnte ich in Indien auch keine Papiere als Immigrant erhalten. Die Polizei arbeitet dort mir den Chinesen zusammen und schickt Leute wie mich wieder zurück.

So bin ich nach Frankfurt gekommen. Ich war eine Woche im Aufnahmelager in Unna, später dann kam ich in ein Flüchtlingsheim in einer großen Stadt und schließlich im Februar 2015 nach Weilerswist.

Warst du in Tibet Mitglied in einer Vereinigung oder Gruppe?

Nein, das gibt es so in Tibet nicht, es gibt nur einige Tanzgruppen, denen ich aber nicht angehörte. Das Dorf, aus dem ich komme, ist klein, etwa so groß wie Weilerswist und ich war in der Dingi-Regierung, der Regionalverwaltung. Wir achten sehr auf gegenseitige Nachbarschaftshilfe. Wenn eine Familie arm ist oder jemand gestorben ist gibt es 42 Tage lang viel Arbeit.

Bist du mit deiner Situation in Weilerswist zufrieden?

Jetzt ja. Mittlerweile verstehe ich ein bisschen die Sprache und die deutsche Lebensweise.

Was gefällt dir hier in Deutschland besonders gut?

Ich bekomme zum Beispiel beim Lernen der Sprache viel Hilfe von anderen. Kontakte habe ich auch außerhalb von Weilerswist – in Bonn, wo viele Tibeter leben, aber auch in Hamburg und Köln. Das Wetter hier ist ähnlich wie in Tibet, nur dort sind Hitze und Kälte extremer, weil das Land höher liegt. Über die deutsche Kultur weiß ich noch zu wenig. Ich wohne in einer Familie und alle sind sehr nett.

Vermisst du dein Zuhause – Tibet – nach drei Jahren?

Ich habe manchmal Schwierigkeiten, wenn ich schlafe. Ich träume dann schlecht; ich habe Angst, jemand ist hinter mir, der mich verfolgt. Ich vermisse meinen Onkel, besonders die Kinder meines Onkels, die ich sehr liebe. Aber ich vermisse auch meine Freunde aus Tibet. Hier habe ich leider keine deutschen Freunde, ich glaube weil ich zu schüchtern und zurückhaltend bin und ich meistens nur unter Flüchtlingen war. Wie gesagt, Kontakt habe ich zu anderen Tibetern in Bonn, Köln und Hamburg.

Könntest du jetzt nach Tibet fahren um deine Familie zu besuchen?

Nein, ich bekäme jetzt Schwierigkeiten mit den Chinesen. Ich weiß nicht genau, was passieren würde – aber es ist gefährlich! Mein Onkel hat auch Angst. Ich würde wie ein Ausländer behandelt; ich bräuchte ein Visum. Ich fühle mich hier wohl, aber ich würde gerne zu Besuch nach Tibet fahren– später werde ich das vielleicht machen.

Was ist ein wichtiger Wunsch von dir für dein Leben in Deutschland?

Mein Wunsch ist, die deutsche Sprache zu lernen und Arbeit zu bekommen. Das ist wichtig für meine Selbständigkeit und Unabhängigkeit; ich möchte selber für mich Verantwortung übernehmen. Dann möchte ich gerne eine eigene Wohnung haben und als Koch arbeiten können. Neben meiner Schule hier habe ich schon Praktika als Koch gemacht im Altenheim, Hotel und im Flüchtlingsheim. Vielleicht kann ich ja später einmal selbständig ein eigenes Restaurant eröffnen.

Wie begegnen dir die Menschen in Weilerswist?

Ich bin meistens zu Hause und in der Schule. Aber die Weilerswister – nicht Köln oder anderswo – grüßen immer nett auf der Straße, das ist in Tibet nicht so. Zu Beginn war ich bei der Weilerswister Tafel um zu helfen. Dort war eine Frau, die mir vom Tambourcorps erzählte. Dort bin ich seither aktiv und fühle mich sehr wohl. Ich bin jetzt seit zwei Jahren dabei und spiele die Becken. Es würde mich reizen, irgendwann die Pikkoloflöte spielen zu lernen. Das ist ein Wunsch für die Zukunft.

Ich habe eigentlich immer nur nette Leute getroffen, ich war immer willkommen: in der Grundschule, Gesamtschule, bei der Tafel, in der Kirchengemeinde, in den Sprachkursen und im Tambourcorps. Im Tambourcorps habe ich auch private Kontakte – bei Weihnachtsfeiern, beim Grillen oder wenn mich jemand zum Geburtstag einlädt.

Du bist ein positiv eingestellter Mensch, du gibst nicht auf. Gibt es auch Momente, in denen du weinen könntest?

Im Großen und Ganzen nein – bei Kleinigkeiten ja schon, so passiert es mir beispielsweise, dass eine bestimmte Person mich immer bösartig fixiert, mich ärgert und komische Gesten zu mir macht. Dann vermisse ich Freunde.

Warum gibt es Deiner Meinung nach Leute, die die Flüchtlinge ablehnen?

Das liegt teilweise auch am Verhalten der Geflüchteten. In der Schule habe ich einen Freund aus Afghanistan. Er ist 21 Jahre alt und trägt oft neue Markenkleidung, wie im Heimatland. Ein deutscher Mitschüler neidet ihm die Kleidung und meint: Du hast keine Arbeit, deshalb dürftest du kein Geld haben.

Ich selber habe aber noch keine unhöfliche Ansprache hier erlebt.

Hast du Kontakt zu Geflüchteten aus anderen Kulturen?

Zwei Personen sitzen auf Stühlen in einem Garten und unterhalten sich.
Barbara Lehmann-Detscher im Interview mit Tendar.

Einmal pro Woche treffe ich mich mit einem Afghanen aus Zülpich. Zusammen kaufen wir ein, kochen und essen. Wir sprechen auch über Hobbys, Schule und manchmal auch über persönliche Dinge.

Könntest du dir vorstellen, dich für andere sozial zu engagieren, zum Beispiel bei neuen Geflüchteten aus anderen Nationen?

Ja, ich will gerne bei Neu-Angekommenen dolmetschen und ihnen helfen.

Das Interview führten Barbara Lehmann-Detscher und Christoph Klocke am 24. Mai 2018. Tendar ist bescheiden und zurückhaltend. Deshalb erzählt er nicht von sich aus, dass er in Tibet keine Schule besuchen konnte. Auch nicht, dass er in nur zwei Jahren die deutsche Sprache erlernt und den Hauptschulabschluss Klasse 10 erworben hat – dank großer Motivation und Nachhilfe mit guten Noten in Englisch und Mathe. Es gibt auch ein paar Weilerswister, die sich als Tendars Freunde sehen würden. Anfang September hat Tendar eine Ausbildung in einem edlen Restaurant bei Euskirchen begonnen – und eine kleine Wohnung in der Nähe gefunden.